Der Tesla gleitet über den engen Schotterweg. Links und rechts ziehen Tannen vorbei, dann wird es heller, der Wagen stoppt auf einer Lichtung. Hier zirpen die Grillen, die Sonne scheint, ein oranger Schmetterling sitzt auf einer lila Blume. Ein leises Rauschen ist zu hören, wie von einer weit entfernten Autobahn. Es stammt von 41 Meter langen Rotorenblättern, die sich in etwa 140 Meter Höhe langsam drehen. Thomas Pfluger steigt aus dem Wagen, schaut nach oben zu den Windrädern und sagt: „Also ich finde die schön.“ 

Pfluger, 56 Jahre alt, hat vor sechs Jahren seine Software-Firma verkauft und jetzt ein neues Hobby: die Umwelt. Wenn es nach ihm ginge, würden hier in Wildpoldsried im Allgäu noch deutlich mehr Windräder stehen. Doch seit Jahren geht nichts mehr voran. Seit 2014 gilt in Bayern ein Abstandsgesetz mit dem sperrigen Namen 10-H-Regel, die den Windausbau im Land stark gebremst hat; auch in Kommunen, die gerne neue Windräder bauen würden. Es macht den Prozess, Windräder zu bauen, sehr langwierig und kompliziert, teils unmöglich. Hinzu kommt die Sorge vor Klagen von Naturschutzverbänden gegen die neuen Windräder. 

Investitionen in den Bau von Windrädern an Land

Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Stand Februar 2021

Pfluger ist oft bei den Windrädern. Er habe noch nie mitbekommen, dass ein Vogel verletzt wurde. Er ist in seiner Heimat Wildpoldsried mittlerweile so etwas wie ein Energiebotschafter. Doch er war nicht immer so überzeugt. „Gegenüber gewissen Dingen war man natürlich skeptisch, zum Beispiel ob die Investition in ein Windrad wirtschaftlich ist”, sagt er. Nachdem er seine Firma aufgegeben hatte, fragte ihn der zweite Bürgermeister, ob er bei einem Energieprojekt mit afrikanischen Gemeinden auf Französisch übersetzen könne.

Die 10-H-Regel

Die Bayerische sogenannte „10-H-Regel“ bestimmt einen Mindestabstand, den Windräder zu Wohnungen haben müssen. Laut dem Gesetz darf im Umkreis von zehn Mal der Höhe eines Windrades kein Wohngebäude stehen. Bei einem 200 Meter hohen Windrad sind das also 2.000 Meter. Dies steht im Gegensatz zum Mindestabstand von 600 Metern, den das Bundesgesetz vorschreibt.

Die Regelung ist seit 2014 in Kraft und hat den Ausbau der Windenergie in Bayern stark verlangsamt. Gemeinden können sich zwar mit einem Gemeinderatsbeschlusses darüber hinwegsetzen – das gestaltet sich in der Praxis der Lokalpolitik aber oft schwierig. Der Versuch, das Gesetz vor dem bayerischen Landgericht zu kippen ist im Mai 2016 gescheitert – mit Signalwirkung für alle Bundesländer, die gerne ähnliche Gesetze mit schärferen Mindestabständen verabschieden würden.

Die Genehmigungen

Der Bau von Windrädern ist mit vielen Auflagen verbunden. Von Naturschutz über Gesundheitsschutz bis hin zu Regelungen für den Funkverkehr gibt es eine Fülle von Bestimmungen, die erfüllt und beantragt werden müssen, damit ein Windrad gebaut werden kann. Dieser hohe bürokratischer Aufwand schreckt laut der Wilpoldsrieder Bürgermeisterin Renate Deniffel viele Gemeinden davon ab, es überhaupt zu versuchen.

Das Umweltsverbandsklagerecht

Das ist eine besondere Regelung im Naturschutzrecht, die es anerkannten Naturschutzverbänden erlaubt, gegen Gesetze zu klagen. Normalerweise kann nur eine reale Person klagen, wenn eine behördliche Entscheidung sie in ihren Rechten verletzt. Diese Regelung sollte eigentlich dem Naturschutz mehr Rechte einräumen. Weil immer mehr Umweltverbände von ihrem Recht Gebrauch machen und klagen, gestaltet es sich für den Gesetzgeber immer riskanter, neue Regelungen im Bereich Umwelt zu erlassen. Besonders für kleine Gemeinden können die Kosten und der Aufwand eines potentiellen Gerichtsverfahrens sehr abschreckend wirken, so Bürgermeisterin Renate Deniffel.

So habe sich das nach und nach ergeben, er habe sich immer mehr mit dem Thema befasst. „Es ist sinnstiftender, etwas für die Umwelt zu machen, als sich ständig ums tägliche Geschäft zu kümmern“, sagt er. Ausprobieren, machen, etwas tun, diese Worte fallen immer wieder wenn Pfluger spricht: “Zweifeln mag ich nicht, ich mag was tun und dann probieren wir das. Von daher glaube ich, dass ich zu dem Verein hier ganz gut passe.“ Der Verein hier – damit meint er die Gemeinde Wildpoldsried. 

Das 2.600-Einwohner Dorf erzeugt mehr als achtmal so viel Energie wie es verbraucht: Im Wildpoldsrieder Wald stehen elf Windräder. In der Gemeinde gibt es drei Wasserkraftanlagen und thermische Solaranlagen erzeugen auf mehr als 2.000 Quadratmetern Wärmeenergie. Zusätzlich befinden sich auf mehr als 300 Hausdächern Photovoltaik-Module. Vier Landwirte betreiben Biogasanlagen.

Zum Hören: Warum sich der Umstieg für Wildpoldsried gelohnt hat.

Eine der Biogasanlagen steht beim Landwirt Wendelin Einsiedler. Damit wird ein Teil des Dorfs beheizt, unter anderem der Kindergarten. „Der Einsiedler hat diese Gasleitung ins Dorf runter gegraben. Der hat das so recht hemdsärmelig mit seinem kleinen Bagger an der Zugmaschine gemacht und das fand ich irgendwie bewundernswert”, sagt Pfluger. Er läuft über den Einsiedler-Hof als wäre es sein eigener und erklärt routiniert, wie die Biogasanlage funktioniert. Das hat er schon oft gemacht. Selbst Journalisten aus Japan seien schon im Dorf gewesen und bald möchte ein spanisches Fernsehteam fünf Tage lang in Wildpoldsried drehen. 

Ich will das Allgäu CO2-frei machen.

Wendelin Einsiedler, Landwirt aus Wildpoldsried

„Für Führungen gibt es Gott sei Dank den Thomas”, sagt Wendelin Einsiedler. Er selbst habe dafür keine Zeit. Er lacht, erklärt und verschwindet dabei immer wieder für wenige Minuten, um Arbeiten auf dem Hof zu erledigen. Die Idee mit den Windrädern kam von ihm. Ende der 90er Jahre suchte er dafür über das Gemeindeblatt Investoren. CO2-Ausstoß sei eben schon damals ein Problem gewesen, erinnert er sich. Und Windkraft die Lösung. „Das ist doch wohl logisch. Da braucht es keine besondere Eingebung“, sagt der Landwirt. Insgesamt elf Windräder hat er dort gebaut. Acht neue sind in Planung. „Ich will das Allgäu CO2-frei machen“, sagt Einsiedler, lacht und wippt in seinen Gummistiefeln hin und her.

Ein Erfolgsprojekt. Für die Dorfgemeinde. Für Wendelin Einsiedler. Für den Energiebotschafter Thomas Pfluger, der Besucher jetzt ehrenamtlich über den Einsiedlerhof führt. Sie alle wollen dafür sorgen, dass die Energiewende in Wildpoldsried weiter geht. Und sie alle profitieren davon. Pfluger hat investiert. Wendelin Einsiedler auch. Wenn man beim Stammtisch erzähle, dass man schon 300 Prozent der Investitionen rausbekommen habe, dann könne schon Neid entstehen, sagt Landwirt Einsiedler. Widerstand gebe es im Dorf aber nicht, findet er. „Manche sagen halt: Mei, mir gefällt die Landschaft halt nicht so gut“, sagt er, „ganz ohne Gegenwehr, das kannst du heute nicht erwarten. Das wäre blauäugig“.

Gegenwehr – so würde die Wildpoldsriederin Nathalie, die ihren echten Namen nicht in diesem Artikel lesen will, ihre Einstellung auch nicht nennen. „Ich hätte mir einfach ein bisschen mehr Transparenz gewünscht“, sagt sie, „dass man einfach von Anfang an sagt, dass man hier einen Windpark bauen will“. Von ihrer Terrasse aus kann man die Windräder gut sehen. Weiße Striche in der grünen Allgäuer Hügellandschaft. Im Gegensatz zu Pfluger, Einsiedler und vielen anderen Wildpoldsriedern hat sie nicht in die Windräder investiert. 

Anfangs sollten es nur zwei sein, erinnert sie sich. Dann vier. Mittlerweile sind es elf. „Heute hört man sie nicht“, sagt sie und trinkt einen Schluck selbstgemachten Eistee. Es ist ein heißer, windstiller Tag, die Sonne spiegelt sich in Nathalies Kreuzkette. Wenn abends der Ostwind bei ihr wehe, höre man die Windräder deutlich, „dann sagt jeder: Was ist denn bei dir los?“ Sie selbst habe sich mittlerweile daran gewöhnt. „Es geht aber einfach darum, wie das damals gelaufen ist“, sagt die Wildpoldsriederin.

Ein Erklärungsversuch mit fachlichem Input von Thomas Grischko, Klimapsychologe 

Was hindert am Umstieg?

Me, Myself and I – Menschen stellen ihren eigenen, unmittelbaren Nutzen häufig vor den der Gesellschaft. Geld für das Gemeindefest macht heute Spaß. Investitionen in Windräder lohnen sich erst später. Dazu kommt: Klimawandel ist komplex, vielschichtig und sprengt oft die eigene Vorstellungskraft. Die Auswirkungen des Klimawandels merken Bürger und Bürgerinnen nicht sofort. Das Handeln scheint nicht dringlich. Außerdem: Warum sollen wir was tun, wenn die anderen nichts tun? Oft glauben wir, dass wir als einzelne Person, Kommune oder Stadt nichts bewirken können. 

Wie gelingt der Umstieg?

Veränderung kommt mit Einsicht. Denn wer nur Politik und Regierung den schwarzen Peter zuschiebt, wird selbst nichts tun. Aus der Motivationspsychologie weiß man: Ziele sollten möglichst konkret, unmittelbar und umsetzbar sein. Statt gleich einen Windpark zu bauen, könnte sich eine Gemeinde z.B. auf den Umstieg auf Öko-Strom bis Jahresende festlegen. 

 Was hat Wildpoldsried richtig gemacht?

Die Einwohner in die Planung mit einbezogen, sie am finanziellen Nutzen beteiligt, Probleme, Lösungsansätze und Konsequenzen kommuniziert und diskutiert. Der Klimaschutz wurde Schritt für Schritt zur sozialen Norm gemacht. 

Wie überzeugen wir uns und andere?

Ängste äußern, Ängste ernst nehmen, Ängste diskutieren. Und positives Verhalten verstärken. Uns selbst und andere für kleine Veränderungen loben und uns Stück für Stück größere Ziele setzen. Der eine beginnt beim Strom sparen, die andere bei der Investition in Windräder.

Als sie sich damals bei einer Gemeinderatssitzung nach dem Schattenwurf der neu geplanten Windräder erkundigte, wurde sie belächelt. „Bei mir ist heute Morgen auch ein Rabe übers Dach geflogen und hat einen Schattenwurf gemacht“, sei ihr gesagt worden. „Wenn du vor der Gemeinde ins Lächerliche gezogen wirst, das brauchst du dann auch nicht“, sagt Nathalie. Wenn sie erzählt, wird deutlich: Große Visionen und Hau-Ruck-Mentalität reichen für sie nicht aus, um sich abgeholt zu fühlen. Trotzdem mag sie den Einsiedler. Inzwischen kennt sie den Landwirt gut genug, um ihm die Meinung zu sagen, wenn sie etwas stört. Sie treffen sich regelmäßig im Bibelkreis.

Neue Windräder werden in Wildpoldsried vom Pfarrer gesegnet, der Kindergarten ist katholisch und ein großes Kreuz steht auf dem Hügel neben dem Naturbadeteich, der sich durch Pflanzen und Mikroorganismen selbst reinigt. Daneben steht Pfluger mit vier Männern aus einer Gemeinde vom Bodensee, die das berühmte Energiedorf besichtigen.

Ich will, dass meine Kinder später mal sagen, unser Vater hat weiter gedacht als andere.

Thomas Pfluger, Gemeinderat in Wildpoldsried

Pfluger verbreitet eine lockere Stimmung, die Gäste fühlen sich wohl. Sie testen die Spinning-Räder in der mit Photovoltaik-Panels bestückten Sporthalle, lachen, klopfen anzügliche Sprüche. „So ist das halt“, sagt Pfluger später. In Wildpoldsried trifft Tradition auf Innovation. Pfluger, der in München Elektrotechnik studiert hat, interessiert sich vor allem für Letzteres: „Ich will, dass meine Kinder später mal sagen, unser Vater hat weiter gedacht als andere.“ Er tut viel dafür. Er berät andere zum Thema Photovoltaik-Einstieg. Er führt Besuchergruppen durch das Dorf und bildet Menschen aus Afrika zum Thema erneuerbare Energien weiter. Das Engagement der Energievorreiter zahlt sich auch in Anerkennung aus: 2018 wurde Wildpoldsried als europäische Energiekommune gekürt, im Rathaus hängen zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Im Rathaus tauscht sich Gemeinderat Pfluger häufig mit Renate Deniffel aus. Letztes Jahr wurde sie zur Bürgermeisterin gewählt. „Ich habe das Glück auf das aufzubauen, was andere machen, wie Thomas Pfluger”, sagt sie und blickt zu Pfluger, der im Stuhl neben ihr sitzt. Die beiden wirken vertraut. Wenn die Bürgermeisterin spricht, schaltet sich Pfluger immer mal wieder ein. „Ich würde noch etwas ergänzen”, sagt er dann. „Wir verstehen uns”, antwortet Deniffel grinsend. Die beiden verbindet noch mehr, denn sie kämpfen einen gemeinsamen Kampf: Acht neue Windräder in der Gemeinde Wildpoldsried wollen sie bauen. Die 10-H-Abstandsregelung und langwierige Genehmigungsverfahren halten genau das seit Jahren auf. 

Verabschiedet wurde die Regelung von Deniffels eigener Partei, der CSU. Vor kurzem hat sie im ARD-Sommerinterview gegenüber Bayerns CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder die Regelung kritisiert und eine Vereinfachung der Regulierungen gefordert. „Ich nutze jede Gelegenheit, das zu sagen, auch wenn es mir parteiintern Ärger einbringt, das ist mir völlig Wurst“, sagt Deniffel. Wenn man nach ihrem Vertrauen in die Bundespolitik fragt, drückt sich die Bürgermeisterin diplomatisch aus. Pfluger dagegen schüttelt vehement den Kopf. „Ich habe gar kein Vertrauen in die Bundespolitik, muss ich ehrlich sagen”, sagt er. Man überreguliere alles und verhindere damit die Energiewende.

Wenn man Deniffel nach ihrer Motivation fragt, antwortet sie sofort: „Die Schöpfung bewahren“. Man müsse aber nicht gläubig sein, um zu verstehen, dass das wichtig sei, ergänzt Pfluger. Eine Sache leugnen die beiden nicht: „Windkraft war natürlich schon eine Business-Idee”, sagt Deniffel, „wir haben nichts gegen das Geld verdienen“.

Zum Hören: Wie sich Thomas Pfluger sein Dorf in 20 Jahren vorstellt

An der 10-H-Regelung wird die Zukunft von Wildpoldsried wohl nicht scheitern. Was die politischen Vorgaben aber für die Energiewende in Deutschland bedeutet, ist ungewiss. Zu groß ist der Bedarf an CO2-neutralem Strom. Die Investitionen in Windenergie hinken da immer stärker hinterher. Auch in Bayern und auch, weil viele zwar das Klima schützen wollen, aber nicht unbedingt mit einem Windrad in der eigenen Aussicht.

Wenn wir irgendwo sind, dann schauen wir immer: Wo sind die Windräder, wo sind wir daheim?

Nathalie, Bürgerin aus Wildpoldsried

Die Wildpodsriederin Nathalie hat sich an den Anblick mittlerweile gewöhnt. Schön fänden viele aus ihrer Familie die Windräder noch immer nicht, sagt sie. „Aber wenn wir irgendwo sind“, ihre Stimme wird leiser und sie grinst dabei ein wenig, „dann schauen wir immer: Wo sind die Windräder, wo sind wir daheim?“

  • Die Gemeinde Wildpoldsried: Wo auch Schuppen sich mit Solarpanels zieren.