Daniel Lüscher öffnet das dicke Ringbuch vor sich. Behutsam blättert er durch die Seiten, dann lächelt er. „Der Arbeitsplatz mit der schönsten Aussicht” steht auf dem schwarzen Papier. Daneben kleben Bilder, ungefähr 25 Jahre alt. Sie sind von oben geknipst, aus einem Flugzeug. Zu sehen sind die Wölbung der Erde, die schneebedeckten Schweizer Alpen, das Eis auf der weitläufigen Fläche Grönlands. Er blättert weiter. Auf einem Foto breitet ein Vogel seine Flügel aus. „Diese Energie! Bis in die letzte Feder!” Das Strahlen in Lüschers Augen verrät, wie fasziniert er vom Fliegen ist. „Mit zehn Jahren habe ich entschieden, ich will Pilot werden”, sagt Lüscher. Auf der nächsten Seite ist er selbst zu sehen, winkend aus einem Cockpit. Das Fotoalbum zeigt seine Ausbildung bei Swissair. Damals hat er seinen Traumberuf aus Kindheitstagen in die Tat umgesetzt – er ist Pilot geworden. „Ich hatte das perfekte Leben”, erzählt er, „ich war immer eine Woche hier, drei Tage dort, hatte Verantwortung, viel Energie, eine tolle Crew.”
Klimaschutz kann man nicht befehlen.
Daniel Lüscher
Heute bietet Daniel Lüschers Arbeitsplatz nicht mehr die beste Aussicht. Sein Büro liegt im Erdgeschoss, er teilt es sich mit seinen Mitarbeitern. Sie sitzen in Winterthur, einer 100.000-Einwohner-Stadt in der Schweiz. Von dort aus leitet Lüscher die Klimaschutzorganisation myblueplanet, die er vor 15 Jahren gegründet hat. Er möchte die Menschen „mitziehen“ und untermalt das mit einer Geste, bei der er sich nach hinten lehnt und an einem imaginären Seil zieht. „Klimaschutz kann man nicht befehlen, es muss einen inneren Antrieb geben, sonst funktioniert es nicht”, erklärt der 53-Jährige. Er will kein Besserwisser sein, niemandem seinen Lebenswandel aufzwingen.
Trotzdem ist sein Ansatz: Fliegen nur noch, wenn es absolut nötig ist. Ein Flug alle fünf Jahre, das ist für ihn in Ordnung. Denn die Luftfahrt trägt erheblich zum Klimawandel bei. Rund 2,5 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen stammen von Flugzeugen, gibt der internationale Dachverband der Fluggesellschaften an. Kondensstreifen und Stickoxide verstärken die Erderwärmung weiter. Zwar würden die Flugzeuge effizienter werden, aber die Zahl der Fluggäste bei Urlaubs- und Geschäftsreisen wachse schneller als der technische Fortschritt, erklärt Lüscher.
Quelle: The World Bank, 2019
„Beim Fliegen habe ich gelernt, wie schön die Erde ist”, sagt Lüscher. Von oben habe er aber auch gesehen, wie das Eis in Grönland und der Schnee auf den Bergen immer weniger wurde. „Ich bin in den Voralpen aufgewachsen. Als Kind war ich Schlittenfahren, Skifahren oder habe aus Schnee Hütten gebaut.” Doch die Skilifte von damals seien jetzt nur noch ein paar Tage im Jahr offen, „weil es einfach keinen Schnee mehr gibt”. Lüscher spricht langsamer, sein Lächeln verschwindet. Als Pilot war er dafür mitverantwortlich. Lange Zeit hat er deshalb mit sich gerungen, was er tun soll. „Klimaschutz muss man selbst machen”, sagt Lüscher heute. „Aber bis die Entscheidung fiel, dass ich aufhöre, war ich auch gut darin, Ausreden zu finden”, gibt er zu.
Im Jahr 2007 ist damit Schluss. Daniel Lüscher hat einen kurzen Aufenthalt in New York, bevor er sich wieder ins Cockpit setzen muss. Er und seine Crew beschließen, ins Kino zu gehen. Im Programm läuft die Klima-Dokumentation „Eine unbequeme Wahrheit” von Al Gore, ehemaliger amerikanischer Vizepräsident. Der Film erzählt von Unwettern, Dürren, Überschwemmungen – und davon, dass immer weniger Zeit bleibt, etwas dagegen zu tun. Dieser Film ist für Daniel Lüscher der Auslöser.
Es sind zu viele Warnlampen an.
Daniel Lüscher
„Ich wusste: Jetzt sind zu viele Warnlampen an. Als Pilot habe ich gelernt, Verantwortung zu übernehmen – und dass ich so nicht weiterfliegen kann.” Er reduziert seine Arbeitszeit auf 75 Prozent und gründet in seiner freien Zeit myblueplanet. Seine Flugfirma unterstützt das soziale Engagement, zahlt ihm sogar das volle Gehalt. Den Job als Pilot komplett an den Nagel hängen kann Daniel Lüscher damals noch nicht, dazu verdient er mit seiner Organisation viel zu wenig. „Safety first”, wieder etwas, das er als Pilot gelernt hat. Sieben Jahre zieht er das so durch, dann reduziert Lüscher weiter und arbeitet nur noch Teilzeit. Im November 2020 hört er ganz mit dem Fliegen auf. „Jetzt habe ich 40 Prozent weniger Geld und mehr Arbeit.” Er lacht.
Ganz am Anfang hat Daniel Lüscher nur den Namen für seine Umweltorganisation und ein Postfach. Er startet mit Kinovorstellungen des Films von Al Gore und kooperiert mit Universitäten bei Abschlussarbeiten. Zwei Teilzeitkräfte und 20 Freiwillige kommen dazu. Der Pilot wollte schon damals eine mächtige Bewegung gründen. „Wir haben uns das anfangs zu einfach vorgestellt”, meint er heute.
Vom Piloten zum Klimaschützer
Doch seitdem hat sich der Wind für Lüscher und myblueplanet gedreht. „Das Fundament stimmt”, ist er sich sicher. Vor dem Büro stehen drei rote Sessel um einen riesigen Globus herum. Licht fällt durch das Glasdach in die Halle und lässt den Marmorboden glänzen. Vor vielen Jahren wurde hier mit Kaffee gehandelt, heute gehört das Gebäude einer Stiftung. Sie unterstützt myblueplanet mit Räumlichkeiten und mit Geld. Über die Jahre hinweg sind es schon über eine Million Schweizer Franken geworden.
Unter Freunden, Familien und Nachbarn, da hat man richtig Einfluss.
Daniel Lüscher
Lüscher ist gut vernetzt. Ein ehemaliger Vorstand einer deutschen Bank berät ihn einmal im Monat, um seine Strategie und Unternehmensführung zu verbessern. Auch Lüschers Rat ist sehr gefragt. Mittelständische Unternehmen und prominente Interessenten kämen auf ihn zu, um zu erfahren, wie sie am besten mit dem Klimaschutz loslegen können. Myblueplanet hat inzwischen 17 Mitarbeiter und 150 Freiwillige. Sie bringen das Thema Klimaschutz Schritt für Schritt an die Schulen, in die Unternehmen, die Fußballklubs. Zum Beispiel mit langfristigen Projekten wie der Montage von Solarpanels auf Schuldächern oder Workshops für Auszubildende. Über die junge Generation will Lüscher das Thema auch an den Küchentisch bringen. „Dort werden die Entscheidungen getroffen. Unter Freunden, Familien und Nachbarn, da hat man richtig Einfluss.” Unter ihnen will er ein Bewusstsein schaffen und hilft mit Tipps. Ein Beispiel dafür ist seine Faustregel zum Urlaubsflug: „Für jede Flugstunde sollte man als Ausgleich mindestens eine Woche am Zielort bleiben.”
Klimafreundlicher um die Welt – fünf Tipps von Daniel Lüscher
- Keine Kurztrips
Je länger der Flug, desto länger sollte der Aufenthalt sein. Lüschers Faustregel: Für jede Flugstunde eine Woche vor Ort bleiben.
- Ein Flug alle fünf Jahre
Gar nicht mehr fliegen, das funktioniert für die wenigsten. Aber reduzieren kann jeder, findet Lüscher. Einmal alle fünf Jahre fliegen ist für ihn okay. Das Positive: „Dann kann man sich vier Jahre darauf freuen.”
- Möglichst wenig Gepäck
Je mehr Gewicht ein Flieger transportiert, desto mehr Kerosin wird verbraucht. Wer also wenig Gepäck mitnimmt, fliegt umweltfreundlicher.
- Flüge kompensieren
Wenn fliegen, dann sollte man die ausgestoßenen, klimaschädlichen Gase kompensieren. So werden die an anderer Stelle in der Welt eingespart. Aber: Emissionen ganz vermeiden ist trotzdem besser, meint Lüscher.
- Auch beim Auto umdenken
Nicht nur beim Fliegen – auch bei der Autofahrt entstehen klimaschädliche Gase. Deshalb rät Lüscher: „Das nächste Auto sollte ein E-Auto sein.” Wer sogar über ein zweites Auto nachdenkt, sollte sich informieren, ob nicht Sharing-Angebote am Ende billiger und praktischer sind.
Fast ein Jahr ist es her, dass Daniel Lüscher nicht mehr am Züricher Flughafen war. Noch immer läuft er mit sicherem Schritt durch die Flughafenhalle, bahnt sich den Weg vorbei an den Schaltern von Swissair, den Anzeigetafeln, dem Sicherheitspersonal. „Als ich Pilot wurde, dachte ich, dass ich mein ganzes Leben im Flugzeug sein werde. Meine Idee war, dort pensioniert zu werden”, erinnert er sich. Das alles aufzugeben, bereue er nicht, sagt er kurze Zeit später bei einem Espresso auf der Zuschauerterrasse des Flughafens. „Es war eine schöne Zeit, ich verspüre keine Wehmut. Ich habe jetzt diesen neuen Fixstern.“
Wie geht Fliegen klimafreundlicher?
Interview mit Professor Mirko Hornung, wissenschaftlicher Leiter der Forschungseinrichtung Bauhaus Luftfahrt in München
Was ist denn im Moment der vielversprechendste Ansatz, um Fliegen klimafreundlich zu machen?
Wenn wir das schaffen wollen, müssen wir im Wesentlichen zwei Sachen unterscheiden: Einerseits müssen wir die Maschinen, die wir in Zukunft bauen, mit klimafreundlichen Technologien ausstatten. Andererseits müssen wir uns um die Flugzeugflotte von heute kümmern. Wir können nicht von einem Moment auf den anderen auf neue Flieger umsteigen, viele Flugzeuge sind ja mehrere Jahrzehnte im Einsatz. Hier sind synthetische Kraftstoffe ein Schlüsselelement.
Was genau sind synthetische Kraftstoffe?
Das sind flüssige Kraftstoffe, die deutlich klimafreundlicher sind als das auf Erdöl basierende Kerosin. Synthetische Kraftstoffe werden aus CO2 und Ökostrom hergestellt. Das Problem dabei ist aber aktuell noch: Um viel davon herstellen zu können, bräuchte es deutlich mehr Strom aus erneuerbaren Energien.
Ist Fliegen mit Wasserstoff ebenfalls eine gute Alternative?
Wenn wir mit Wasserstoff fliegen wollen, müssen wir neue und spezielle Flugzeuge dafür entwickeln. Und dann ginge es vor allem darum, den Tank unterzubringen. Ein Wasserstofftank braucht wesentlich mehr Volumen als ein heutiger Kerosintank. Der Kerosintank sitzt im Flügel, der Wasserstofftank müsste in den Rumpf. Das geht also nicht mit der schon bestehenden Flugzeug-Flotte.
Ist es plausibel, dass wir in Zukunft elektrisch fliegen?
Für sehr kleine Flugzeuge und für sehr, sehr kurze Strecken wäre das grundsätzlich vorstellbar. Aber das große Problem beim elektrischen Fliegen ist das Batteriegewicht: Die Energiedichte von Batterien – das heißt, wie viel Energie ich pro Kilogramm speichern kann, ist zu gering. Dadurch werden die Batterien zu schwer. Wir haben dazu auch eine Studie gemacht: Selbst wenn die Batterien zehnmal stärker wären als heute, könnten sie sehr wahrscheinlich nur für Kurzstrecken eingesetzt werden.
Kann man die Flieger klimafreundlicher machen, durch die Art und Weise, wie sie konstruiert sind?
An der Konstruktion der Flieger wird die ganze Zeit schon getüftelt. Man darf nicht vergessen: Bei einer Airline machen die Kraftstoffkosten ungefähr 45 Prozent der Gesamtkosten aus. Das heißt, die Airlines werden immer ein Interesse daran haben, den Verbrauch zu reduzieren. Aber auch andere Dinge können wir heute schon machen: Die Flüge mehr auslasten, über Sharing-Modelle nachdenken, den Flugverkehr gerade auf der langen Strecke zwischen mehreren Airlines stärker bündeln, Flugrouten verändern.
Dieser Fixstern – wie ein Kompass, der ihn leitet – das ist der Klimaschutz. „Ich weiß jetzt auch im Kopf, wo ich hin will, nicht nur im Herzen.” Mit einem Studium im Bereich Nachhaltigkeits-Management steigt er noch tiefer in das Thema ein. Wenn man ihn fragt, was er mit dem Fliegen verbindet, dann gibt er diese Antwort. „Früher habe ich Freiheit damit verbunden. Heute ist es die Frage: ‚Wohin geht die Reise?’“ Er wirkt nachdenklich. Als Pilot war das Reiseziel für ihn immer klar. Als Klimaschützer ist es komplizierter geworden. „Wir haben nur einen Planeten. Wir müssen uns entscheiden, wohin die Reise geht, jeder Einzelne.”