Hier wird es also stehen. Das Haus, mit dem sie der Welt beweisen will, dass es geht. Bauen, ohne Ressourcen zu verschwenden. Ohne klimaschädliche Materialien. Die Sonne brennt auf das Baufeld 105 im Hamburger Elbbrückenquartier herab, ein leeres Grundstück inmitten einer kolossalen Baustellen-Landschaft. Gelbe und rote Kräne ragen ringsum in die Höhe, Baucontainer gruppieren sich am Rande von Betonskeletten. In der Luft liegt ein ständiges Surren und Zischen, ein Klopfen und Hämmern. Noch haben die Hauptbauarbeiten hier nicht begonnen, die Bagger sollen Ende des Jahres anrollen. Jasna Moritz, die Architektin, sagt schon jetzt: „Dieses Projekt ist sinnstiftend. Seit ich weiß, dass so etwas möglich ist, kann ich gar nicht mehr anders.“
Moritz sitzt 400 Kilometer entfernt im Konferenzraum eines Aachener Bürogebäudes, dem Hauptsitz von Kadawittfeldarchitektur. Eine schlanke 50-jährige Frau mit einem ansteckenden Lachen, die einem direkt das Du anbietet. Es ist ein lauer Septembermorgen, die Architektin trägt ein schwarzes Kleid, die dunklen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Hinter ihr an der Wand hängen Skizzen und Fotos von Bauprojekten, im Nebenzimmer lagern Miniaturmodelle. Von hier aus planen Moritz und ihre Kollegen, was auf dem Grundstück in Hamburg geschehen soll.
Ein Hochhaus soll es werden, das erste seiner Art in Deutschland. Gebaut nach dem Prinzip einer Kreislaufwirtschaft, bei der fast alle verbauten Materialien danach wiederverwendet werden und nicht irgendwann auf der Mülldeponie landen. 2024 soll der Bau fertig sein und drei Wohnblöcke mit bis zu zwölf Etagen umfassen. Damit bietet er Platz für rund 190 Wohnungen, mehr als ein Drittel davon öffentlich gefördert. Der Name des Projekts: Moringa, abgeleitet von einem Baum, dem heilende Kräfte zugeschrieben werden.
Ein heilendes Hochhaus? Moritz glaubt, dass es das braucht. „Wir haben in der Baubranche viele Fehlentwicklungen erlebt“, sagt sie. Zeit und Geld seien lange die alles entscheidenden Kriterien gewesen. Kaum ein Bauherr habe sich früher Gedanken gemacht, was nach dem Abriss seines Hauses mit dem Material passiert. „Wir müssen jetzt umsteuern, wir dürfen nicht länger auf Kosten der nächsten Generation bauen.“
Ökologische Nachhaltigkeit war ein Randthema.
Jasna Moritz
Dieses ökologische Bewusstsein, sagt sie, fehlte ihr am Anfang ihrer Karriere. Als sie 1992 mit ihrem Architekturstudium in Aachen beginnt, hört sie vom Sick-Building-Syndrom, von Menschen, die durch den Aufenthalt in einem Gebäude krank werden. Die Vorstellung, dass Architekten mit ihrer Arbeit auch Schaden anrichten können, erschreckt sie. Aber die Frage, welche verheerenden Folgen das Bauen für die Umwelt haben kann, stellt sie sich damals kaum. „Ökologische Nachhaltigkeit war in der Branche ein Randthema.“
Es ist eine Zeit, in der sie und ihre Kollegen Grobspanplatten verbauen lassen, die kaum recycelbar sind. Eine Zeit, in der Metallbeschichtungen im Trend sind, die sich nur schwer ablösen lassen. Und in der viele Farben und Lacke mit Schadstoffen belastet sind. „Wir hatten einfach nicht das Wissen, das wir heute haben“, sagt Moritz rückblickend.
Das ändert sich, als sie mehr und mehr mit nachhaltigen Bauten in Berührung kommt. 2017 reist sie in die Niederlande und besichtigt dort das Bürgerbüro der Stadt Venlo, ein Gebäude, das nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip entworfen wurde (Von der Wiege zur Wiege). Cradle to Cradle versteht Gebäude als Rohstofflager. Baustoffe sollen nach Ende ihrer Nutzung nicht weggeschmissen, sondern wiederverwendet werden. Es ist nicht weniger als ein radikales Gegenmodell zur Konsum- und Wegwerfgesellschaft.
In Venlo sieht Moritz die begrünte Außenfassade des Bürgerbüros, das wiederverwertbare Holz im Inneren des Gebäudes, die Südseite mit dem recycelbaren Aluminium. Und sie hört dem Projektleiter zu, wie er davon schwärmt, dass die Menschen in dem neuen Gebäude weniger krank seien, weil die Luft im Inneren kaum Schadstoffe enthalte. Rund drei Stunden dauert der Besuch. Er hinterlässt tiefe Spuren. „Ich war total begeistert“, schwärmt Moritz noch heute. „Ich konnte mich diesem Thema einfach nicht mehr entziehen.“
Dass der seit Jahren anhaltende Bauboom maßgeblich zulasten der Umwelt geht, zeigt ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen. Demnach verursacht der Bausektor weltweit 38 Prozent aller CO2-Emissionen. In Deutschland sind es 41 Prozent, wie eine Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft ermittelt hat. Dazu kommt das Problem mit den Bauabfällen. 2018 war der Bausektor deutschlandweit der größte Müllproduzent. Ein Grund dafür ist, dass sich gängige Baustoffe beim Rückbau eines Hauses oft nicht voneinander trennen lassen. Viele Materialien landen direkt auf dem Sondermüll.
In ihrem Konferenzraum breitet Jasna Moritz jetzt eine Reihe von Zetteln auf dem Tisch aus. Mit ihrem Finger fährt sie über die Diagramme, Fotos und 3D-Visualisierungen. Beschriftet sind sie mit Begriffen wie „Typ 4 Aktuell“, „Regelgeschossfassade“ und „Betriebswasserertrag“. Es ist eine Präsentation, die erahnen lässt, wie das Hochhaus in Hamburg einmal aussehen soll. Begeistert springt Moritz von Seite zu Seite, von Zahl zu Zahl. Moringa soll ihr Beweis dafür werden, dass das Cradle-to-Cradle-Prinzip auch bei einem Haus dieser Größenordnung umsetzbar ist.
Statt Stahlbeton stecken in den Fassaden unverleimte Vollholzmodule, die sich leicht ausbauen lassen. Im Boden ist Trockenestrich statt Nassestrich verlegt, der aus maximal zwei Schichten besteht und deshalb einfacher demontiert werden kann. Und anstelle geschlossener Betonwände, die bei Gebäuden dieser Dimension üblich sind, ist das Haus als Skelettbau geplant. „Wir haben uns gefragt, wo wir möglichst an Beton sparen können“, sagt Moritz. Insgesamt sollen rund 80 Prozent der Baustoffe bei Moringa dem Cradle-to-Cradle-Konzept entsprechen.
Allein die Fassade wiegt 2.800 Tonnen weniger als eine herkömmliche Konstruktion. Sie soll begrünt werden, ebenso wie der Innenhof und das Dach. Laut Moritz entsteht auf diese Weise mehr Grünfläche, als mit dem Haus zugebaut wird. Die Pflanzen sollen wiederum die Luftqualität verbessern, indem sie Sauerstoff produzieren und Kohlendioxid und Stickstoff binden. Je nach Himmelsrichtung sollen unterschiedliche Arten gepflanzt werden, die Feinstaub gezielt filtern können. Im Sommer sollen sie Schatten bieten, im Winter ihre Blätter verlieren und dadurch mehr Sonneneinstrahlung ermöglichen. Und die Toilettenspülung soll mit aufgefangenem Regenwasser betrieben werden.
Klimafreundlicher Wohnen – so geht’s! Fünf Tipps
- Energie sparen
Strom spart man leicht, wenn man Geräte direkt ausschaltet und nicht auf Standby betreibt. Und: Ein Wechsel zu Ökostrom ist nicht nur umweltbewusster, sondern häufig günstiger. - Gebrauchte Möbel kaufen und kreativ weiterverwenden
Grundsätzlich gilt auch für andere Geräte: Genau überlegen, ob man ein Produkt wirklich braucht. Und wenn man es nicht mehr nutzt, nicht gleich wegschmeißen. - Die eigenen vier Wände nicht ständig neu streichen
Rohe Wände sind im Trend. Damit spart man Malereimüll und Farben mit ungesunden Dämpfen. - Ökologische Putzmittel verwenden
So gelangen weniger Chemikalien ins Abwasser. Man kann die Mittel sogar mit Rezepten selbst herstellen – das macht auch noch Spaß! - Blumen pflanzen und Bienen anlocken
Ein Blumenkasten auf dem Balkon oder Fensterbrett sieht nicht nur schön aus, die Pflanzen können auch CO2 binden und Insekten anlocken.
Die Baukosten, schätzt Moritz, sind bei Moringa fünf bis zehn Prozent höher als bei einem konventionellen Projekt. Dabei seien nachhaltige Materialien nicht zwangsläufig teurer als Vergleichsprodukte. „Das Problem ist, dass die Hersteller oft nicht wissen, wie umweltfreundlich ihre Baustoffe wirklich sind.” Es gebe zu wenige glaubwürdige Zertifikate für nachhaltige Materialien. Moritz und ihr Team telefonieren deshalb regelmäßig mit Lieferanten, um die Ökobilanz von Baustoffen zu recherchieren und miteinander zu vergleichen.
Die Baubranche ist sehr konservativ.
Alireza Javadian, Lehrstuhl für Nachhaltiges Bauen am KIT
Zu wenige Öko-Zertifizierungen: Daran trage die Baubranche eine Mitschuld, sagt Alireza Javadian. Er ist Wissenschaftler am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und erforscht nachhaltige Materialien. Die Nachfrage nach solchen Stoffen und Zertifizierungen sei gering, sagt Javadian. Stattdessen beharrten viele Unternehmen auf etablierten Materialien wie Stahl oder Zement. Dabei habe sich Holz längst als umweltfreundliche Alternative bewährt: „Es ist erneuerbar, wächst und man muss die Erde nicht tief ausgraben. Für die Erzeugung braucht man nur ein Zehntel der Energie.“ Großes Potenzial sieht er auch in recycelten Produkten, etwa aus Industriemüll. Daraus lasse sich beispielsweise ein spezieller Schaum herstellen, der als Dämmmaterial geeignet sei. Ob solche Baustoffe irgendwann zur Massenware werden, sei aber schwer zu sagen, sagt Javadian. „Die Baubranche ist sehr konservativ.“
Baustoffe der Zukunft
Interview mit Alireza Javadian, Forschungsleiter am Lehrstuhl für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie
Herkömmliche Baustoffe wie Zement oder Stahl gelten als Klimakiller. Wie können sie ersetzt werden?
Holz und Bambus bieten sich als Alternativen an. Wälder gibt es fast überall, und Bambus wächst in weiten Teilen Asiens und Lateinamerika. Beide Stoffe sind erneuerbar, und man muss die Erde nicht tief aufgraben, um die Stoffe zu gewinnen. Für die Produktion braucht man nur ein Zehntel der Energie, die bei der Stahl- oder Zementerzeugung benötigt wird. Außerdem binden Holz und Bambus CO2.
Sind Bambus und Holz also die Materialien der Zukunft?
Schwierig zu sagen, die Baubranche ist sehr konservativ. Ich kann mir aber vorstellen, dass beide Stoffe an Bedeutung gewinnen werden. Es gibt außerdem Müll-basierte Produkte, die die Branche verändern, zum Beispiel Dämmmaterial aus Industrieabfällen.
Manche nachhaltigen Stoffe sind anfangs teurer als herkömmliche Materialien. Warum?
Das liegt an der geringen Nachfrage. Sogar Plastik war vor 50 Jahren teuer. Sowas ändert sich erst, wenn die Branche ein Produkt stärker nachfragt. Erst wenn man ein Produkt in der Masse produzieren kann, wird es billiger. Baustoffe wie Zement sind heute zwar günstig, aber das könnte sich in den nächsten zehn bis 30 Jahren ändern.
Welche Öko-Zertifizierungen gibt es dafür schon?
Für Holzprodukte haben wir zum Beispiel das FSC-Siegel. FSC steht für Forest Stewardship Council und gibt an, ob ein Produkt aus einem nachhaltigen Wald kommt. Außerdem gibt es das LCA-Siegel, das steht für Life Circle Assessment. Diese Zertifizierung zeigt, wie viel CO2 ein Produkt in seinem gesamten Lebenszyklus produziert und aufnimmt. Um die Zertifizierung zu bekommen, müssen die Hersteller aussagekräftige Studien beauftragen und mit wissenschaftlichen Instituten zusammenarbeiten. Beiden Zertifikaten kann man vertrauen, weil bei der Vergabe sehr genau hingeschaut wird.
Wie viel Prozent der heute genutzten Baustoffe sind überhaupt nachhaltig?
Das ist schwer zu beziffern. Es gibt keine einheitliche Definition dafür, was Nachhaltigkeit bei Baumaterialien genau bedeutet. Ich schätze aber, dass der Prozentsatz sehr gering ist, weltweit vielleicht weniger als fünf Prozent.
Um Bauherren zum Umstieg auf umweltfreundliche Alternativen zu bewegen, brauche es deshalb Anreize aus der Politik, sagt Felix Jansen, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Er plädiert dafür, dass die Bundesregierung nachhaltige Bauvorhaben deutlich stärker bezuschusst als bisher. Allein für die energetische Sanierung von Gebäuden müsse die Politik jährlich zwischen 150 und 250 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, fordert die Gesellschaft in einem Positionspapier. Zurzeit sei es nur ein Bruchteil davon. „Einzelne Leuchtturmprojekte wie Moringa werden die Welt nicht retten“, sagt Jansen. Sie könnten aber dazu beitragen, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für nachhaltiges Bauen zu schaffen.
Vorzeigeprojekte für nachhaltiges Bauen
Es ist Mittag geworden in Aachen, die Dächer der Stadt glänzen in der Sonne. Drei Stunden lang hat Jasna Moritz jetzt schon über ihr Hamburger Hochhaus geredet, enthusiastisch und zukunftsfreudig. Doch was ist ein solches Projekt eigentlich wert? Ist Moringa ein Tropfen auf dem heißen Stein? Oder ein Richtungsweiser, der zeigt, wohin sich die Baubranche entwickelt? Moritz überlegt kurz. „Klar ist das ein Ausnahmeprojekt“, sagt sie dann. „Aber ich bin zuversichtlich, dass auch andere Teile der Branche umschwenken werden.“
Sie will die Philosophie der Kreislaufwirtschaft auch nach der Fertigstellung von Moringa in ihre Projekte einfließen lassen. In Köln plant ihr Büro zurzeit ein Verwaltungsgebäude mit bis zu 18 Geschossen. Das Haus soll mit Recycling-Beton gebaut werden, die Fassade soll das Cradle-to-Cradle-Zertifikat tragen, und auf dem Dach sollen Bienenstöcke stehen. „Wir müssen uns einfach nur trauen“, sagt Moritz.